Deutschland und die Schweizer Endlagersuche
03.12.2018 von Bernward Janzing Reportage
Einleitung
In der Schweiz wird schon seit 1972 nach einem Standort für ein atomares Endlager gesucht. Granit als Gestein hat sich hier als untauglich erwiesen, nun setzt man auf Ton. Und hat ihn sehr nah an der deutschen Grenze gefunden
Von Bernward Janzing
Atommüll am Hochrhein
Eine Begegnung mit Lüder Rosenhagen ist ein Ausflug in die deutsche Atomgeschichte (externer Link). Zum Treffen in Bad Säckingen erscheint er mit einem Bild des deutschen Atomschiffs „Otto Hahn“ (externer Link) unterm Arm. Es war „sein“ Schiff in den späten 60er-Jahren. Als Sohn eines Seefahrers in Bremerhaven geboren, war ihm die Matrosenlaufbahn in die Wiege gelegt. Doch bald wollte er mehr, begann ein Studium der Kerntechnik in Hamburg. Es war die Zeit der Atomeuphorie. „Reaktor-Operateur“ konnte er sich schließlich nennen, steuerte dann als Erster Offizier mit Kapitänspatent das einzige jemals gebaute deutsche atombetriebene Boot durch die Meere.
Lange her. Rosenhagen ist kürzlich 80 Jahre alt geworden, längst steht er der Atomkraft kritisch gegenüber – und wird gerade umso mehr von der Atomtechnik wieder eingeholt. Seit Jahrzehnten wohnt er nahe der Schweizer Grenze, verfolgt von dort die Suche der Nachbarn nach einem Standort für ein Atomendlager. Und weil er ein wacher, stets kritischer Geist ist, vertritt er nun den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in der regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenz (externer Link) am Hochrhein. Diese Konferenzen sind Teil internationaler Verpflichtungen. In den Dokumenten ist festgeschrieben, dass die Öffentlichkeit grenzüberschreitend an Entscheidungsverfahren beteiligt werden muss, dass Informationspflichten auch jenseits der Grenzen gelten und dass auch solche Umweltauswirkungen zu berücksichtigen sind, die das Nachbarland betreffen.
In der Schweiz liefern vier Atomkraftwerke Strom, ihr Anteil an der gesamten Stromerzeugung beträgt 40 Prozent. Wie in Deutschland beschloss die Schweiz nach der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg. Allerdings soll das letzte AKW erst 2034 abgeschaltet werden.
Die Alpen sind noch zu sehr in Bewegung, als dass man dort Atommüll einlagern könnte.
Die Regionalkonferenzen führen heute eine Debatte fort, die 1972 begann. Damals gründeten die Verursacher radioaktiver Abfälle gemeinsam die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (externer Link). Seither sucht diese in der Schweiz nach Standorten für Endlager, einerseits für hochradioaktive Abfälle, andererseits für schwach- und mittelradioaktive.
Zwanzig potenzielle Standortregionen für schwach- und mittelradioaktive Abfälle wählte die Nagra bereits 1982 aus und präferierte schließlich den Wellenberg in der Zentralschweiz. Doch die Bürger des betroffenen Kantons Nidwalden stoppten das Projekt per Volksabstimmung. Zum Glück, muss man heute sagen. Denn später schnitt der Wellenberg im sicherheitstechnischen Vergleich so schlecht ab, dass er gänzlich aus dem Verfahren genommen wurde. Auch andere Optionen erwiesen sich bald als untauglich, das an sich geeignete Kristallingestein, wie beispielsweise Granit, wurde als Möglichkeit komplett verworfen. Zu sehr sind die Alpen noch in Bewegung, als dass man in den zerklüfteten Gesteinsformationen guten Gewissens Atommüll einlagern könnte.
Dass diese Erkenntnis so lange brauchte, habe auch daran gelegen, dass die Schweiz geologisch wenig untersucht war, berichtet Atomkritiker Rosenhagen. Während man in Deutschland früh nach Öl und Gas bohrte und Kohle förderte, war das in der Schweiz kein Thema. Und so habe die Nagra zu Beginn ihrer Standortsuche vor dürftigem Kartenmaterial gesessen. Und erst im Zuge der Endlagersuche wurden im Felslabor Grimsel über Jahrzehnte hinweg der Granit, im Felslabor Mont Terri der Opalinuston untersucht.
Als die Granitoption zerstob, blieb der Nagra allein das Sedimentgestein, speziell der Opalinuston. Er sei „das einzig mögliche Gestein für hochradioaktive Abfälle, das in der Schweiz in der geeigneten Tiefenlage (300 bis 900 Meter unter der Oberfläche) in genügender Mächtigkeit vorkommt und von den Forschern ungestört gelagert vorgefunden wurde“, betont nun das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Konkret blieben sowohl für die hochradioaktiven wie für die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle nur drei Standortregionen: das Zürcher Weinland (Zürich Nordost), der Bözberg (Jura Ost) und Nördlich Lägern.
Auch Ton hat Nachteile. Er leitet Wärme schlechter ab als Salz oder Granit
Aber das ENSI gesteht zugleich ein: „Tongesteine haben auch Nachteile für die Lagerung radioaktiver Abfälle.“ Denn Opalinuston leitet die Wärme schlechter ab als Salz oder Granit. Die hochradioaktiven Abfälle, die aufgrund der Nachzerfallswärme noch warm sind, müssen also vor dem Transport in das Tiefenlager ausreichend abklingen. Sonst werde „der Opalinuston zu stark erwärmt und könnte langfristig Schaden nehmen“.
Schaden nehmen könnte das Gestein auch durch biologische Prozesse, warnt Rosenhagen. In der Regionalkonferenz habe er das auch schon angemerkt, sagt er. Zwar werde immer behauptet, das Sediment sei seit Millionen Jahren unverändert. Doch bohre man dieses an, komme Luft in die Schichten, und die dort überdauernden Mikroben könnten beginnen, Gase zu entwickeln. „Dann ist es vorbei mit der Stabilität“, fürchtet Rosenhagen. Widersprochen, sagt er, habe ihm niemand.
Die Festlegung der Schweiz auf den Opalinuston hat dazu geführt, dass es nur nahe der Grenze zu Deutschland potenzielle Standorte gibt. Dass für die regionale Auswahl geologische Gründe verantwortlich sind, mag man noch nachvollziehen. Anders sieht es jedoch bei den Oberflächenanlagen aus. Über diese werden die Abfälle angeliefert und unter Tage gebracht, wobei die hochradioaktiven Abfälle zuvor auch noch in Hallen umgepackt werden müssen – von Castoren in endlagerfähige Behälter.
Bei den Oberflächenanlagen habe man den Eindruck, sie sollten besonders nahe an die deutsche Grenze gerückt werden, sagt Bernd Friebe, der als Deutscher in der Regionalkonferenz Nördlich Lägern sitzt. Eine Gemeinde, die speziell betroffen sein könnte, ist Hohentengen (externer Link). Sollte Nördlich Lägern zum Standort werden, könnte die Oberflächenanlage in Weiach näher an deutscher als an schweizerischer Wohnbebauung liegen – nämlich dürftige 700 Meter. „In Deutschland wäre eine so geringe Entfernung gar nicht genehmigungsfähig“, sagt Hohentengens Bürgermeister Martin Benz – und liegt damit falsch. Im Standortauswahlgesetz (externer Link) gilt auch eine Entfernung von 500 Metern noch als bedingt günstig.
Die Hallen für die Anlieferung des Atommülls könnten näher an deutschen Wohngebieten liegen als an schweizerischen.
Was den Gemeindevorsteher zudem erregt: Trotz der Nähe sei es seiner Kommune verwehrt, den Status einer „Infrastrukturgemeinde“ (PDF, 211 KB, externer Link) zu erlangen – den bekommen nur Schweizer Kommunen. Dieser Status eröffnet im Planungsverfahren Partizipationsmöglichkeiten, zudem erhalten die Gemeinden eine Abgeltung.
So gilt die Hauptkritik auf deutscher Seite den Entscheidungsprozessen rund um die Oberflächenanlagen. Was den Standort des Tiefenlagers selbst betrifft, gilt das Verfahren der Eidgenossen hierzulande als beispielgebend. Weil die Schweiz es geschafft hat, ihre Pläne ohne allzu großen Aufruhr über Jahrzehnte hinweg voranzutreiben. Weil man sich von Anfang an viel Zeit gegeben hat, weil man den Auswahlprozess wissenschaftlich untermauerte. Und wohl auch, weil sich die Schweiz – anders als Deutschland – nicht vorab auf einen Standort festlegte.
„Unaufgeregter“ als in Deutschland sei die Schweiz das Thema angegangen, „sachlicher“ und „nicht sofort so politisch“ – das hört man oft auf deutscher Seite. Dass es nicht zu allzu großen Konflikten kam, liegt aber vielleicht auch an jener Strategie, die Kritiker als die „Perfektionierung der Salamitaktik“ bezeichnen: daran, dass Entscheidungen in viele kleine Zwischenschritte aufgelöst werden.
Inzwischen steht die Schweiz am Beginn der dritten und letzten Etappe ihres sogenannten Sachplanverfahrens (externer Link). Durch vertiefte geologische Untersuchungen wird von den bislang noch drei Regionen ein Standort übrig bleiben. Über diesen wird dann wohl das Volk entscheiden, und zwar auf Bundesebene. Nach Einschätzung der Nagra wird das Anfang der 2030er-Jahre erfolgen, die Inbetriebnahme des Tiefenlagers dann ab 2050.
Kritiker nennen es Salamitaktik, weil Entscheidungen in viele kleine Zwischenschritte unterteilt wurden.
Welcher Standort es auch immer sein wird, er könnte nach Befürchtung von Kritikern am Ende nur der beste unter lauter schlechten sein. Denn die Schweiz ist klein, hat also nicht allzu viel Auswahl an geeigneten geologischen Formationen. „Wäre die Schweiz ein deutsches Bundesland, käme niemand auf die Idee, gerade dort ein Endlager zu bauen“, sagt Axel Mayer vom BUND Südlicher Oberrhein.
Atomtechniker Rosenhagen freut sich unterdessen, dass er wesentlich dazu beigetragen hat, dass für den künftigen Standort bewiesen werden muss, dass er für eine Million Jahre sicher ist. „Zuerst sollten nur 100 Jahre angesetzt werden.“ Die hätte man vielleicht noch gewährleisten können. „Aber eine Million Jahre, wie soll das gehen?“, fragt der einstige Erste Offizier der „Otto Hahn“.
Nicht auszuschließen also, dass die Schweiz am Ende erkennen muss, dass es im Land keinen einzigen Standort gibt, der den vorab definierten Kriterien standhält. Wie es dann weiterginge, mag sich niemand so recht ausmalen.