Fehler richtig machen
22.12.2017 von Horand Knaup Reportage
Einleitung
Fehler kommen in deutschen Behörden normalerweise nicht vor. Und wenn sie vorkommen, werden sie häufig verschwiegen oder sogar vertuscht. Bei der heiklen Suche nach einem atomaren Endlager in Deutschland soll das anders laufen. Es ist Neuland für alle Beteiligten.
Von Horand Knaup
Thomas Lautsch, 56, hat viel gesehen von der Welt. Er war in Kanada und Australien, in Polen und Südafrika. Er hat über Tage nach Kohle gegraben und tief in der Erde nach Erz und anderen Metallen.
Der Job, den der promovierte Bergbauingenieur heute hat, ist ein bisschen anders. Heute fahndet Lautsch nicht mehr nach Schätzen im Boden. Er ist der Chef der Männer und Frauen, die Schacht Konrad bei Salzgitter herrichten, damit dort im Laufe der 2020er-Jahre die Einlagerung des deutschen schwach- und mittelradioaktiven Atommülls beginnen kann.
Die Sache ist umstritten, sie war es von Beginn an. Die Bürgerinitiativen der Region haben vor dem umzäunten Gelände verwitterte Fässer aufgetürmt: „Altlast schon vor der Inbetriebnahme“, mahnt ein Hinweisschild. Das Eisenerz, so argumentieren sie, sei als Wirtsgestein nicht in der Lage, die Ausbreitung der Radionuklide aufzuhalten. Daran ändere auch die Überdeckung mit Ton nichts. Im Übrigen seien die Rechenprogramme für die Datenverarbeitung völlig veraltet.
Lautsch, hochgewachsen, smart, sportlich, sieht die Sache naturgemäß anders. Es habe ein sehr aufwendiges Prüf- und Genehmigungsverfahren gegeben: „Dabei ist der aktuelle Stand der Technik gefordert, und wir halten ihn ein.“ Auch für die Sicherheitsanforderungen berücksichtigten seine Leute „den Stand von Wissenschaft und Technik“.
Der Schacht Konrad ist deshalb von Bedeutung, weil ihm in einigen Jahrzehnten irgendwo in Deutschland ein viel größeres, viel heikleres Projekt nachfolgen soll: das Endlager für hochradioaktiven Müll.
Und der Schacht ist auch deshalb von Belang, weil sich viele Fehler, die dort begangen wurden, nicht wiederholen sollen. Denn anders als die Grube Konrad, deren Planfeststellungsbeschluss aus dem Jahr 2002 stammt und in der nun 20 Jahre später die ersten Fässer eingebunkert werden sollen, ist die Endlagersuche als Prozess angelegt, als sogenanntes „Lernendes Verfahren“. Im Klartext: Geplant ist ein Projekt, das sich in jeder Hinsicht beweglich zeigt. Das offen genug ist, neue wissenschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen und zu verarbeiten; das auf Bürgerbeteiligung setzt und frühzeitig Ängste und Besorgnisse der Bevölkerung aufnimmt. Und das schließlich in der Lage ist, Fehler zu erkennen und neue Einsichten zeitnah in das Verfahren einfließen zu lassen.
Es war der Streit um den neuen Bahnhof Stuttgart 21, der den Boden bereitet hat: Die Blockaden, die Wasserwerfer, die blutigen Bilder, die die Gesellschaft nicht mehr akzeptiert, hatten ein Umdenken erzwungen. Selbst konservativen Politstrategen in Baden-Württemberg dämmerte damals: Das übliche Top-Down-Verfahren – Architekten planen, Politiker beschließen, Gerichte segnen ab – hat sich überlebt. Es würde neuer Verfahren und Methoden bedürfen, um in Deutschland noch Großprojekte umzusetzen. Oder wie es Simon Oerding, Experte für Dialog- und Beteiligungsverfahren vom Düsseldorfer IFOK-Institut, formuliert: „Es braucht neben der amtlich-formellen Genehmigung inzwischen auch eine gesellschaftliche Betriebserlaubnis.“
Das hatten Ende 2013 auch Bundesregierung und Bundes tag verstanden und richteten die Endlagerkommission ein. Über drei Jahre lang versuchten Abgeordnete und Umweltschützer, Juristen und Atomfachleute einen gangbaren Weg für die schwierige Suche nach einem Friedhof für den hochradioaktiven Müll des Landes zu beschreiben. Auf knapp 700 Seiten haben sie diesen Pfad skizziert. Es ist ein Pfad, der den Beteiligten nun eine Menge abverlangt.
Schon die Sprache ist sperrig. Ein „selbsthinterfragendes System“ haben die Kommissionsmitglieder festgeschrieben. Doch dann wird, was in hölzernem Deutsch daherkommt, sehr konkret: Ein sich selbst hinterfragendes System bedürfe „grundsätzlich einer kritischen Beobachtung durch externe Akteure“. Es soll ein Prozess angestoßen werden, der auf verschiedenen Ebenen „gegenseitige Korrekturen und Kritik“ erlaubt. Im Klartext: Es ist das Eingeständnis, dass Fehler vorkommen, dass sie zugegeben und benannt werden müssen – und dass sich nur so Lehren ziehen und Unfälle vermeiden lassen.
In anderen sicherheitsrelevanten Bereichen ist diese Art, Fehler ins Positive zu wenden, längst Alltag: In der Flugsicherung etwa, bei Airlines und ihren Piloten, aber auch in Kernkraftwerken. Probleme, so das Credo, müssen offengelegt und analysiert werden, weil sich nur so gefährliche Wiederholungen vermeiden lassen.
Aber eine staatliche Administration, die Fehler einräumt, sich korrigieren und kritisieren lässt? Abteilungsleiter, die bereit sind, Defizite oder Versäumnisse zu bekennen? Behörden, die dazu stehen, dass sie Erfahrungen sammeln müssen und dass bei ihren Entscheidungen Fehler vorkommen können? Und das alles in einem schwerstverminten Themenfeld? Schwer vorstellbar und absolutes Neuland. Und es wäre, wenn es gelingt, der Anlauf zu einer kulturellen Revolution.
Staatliche Akteure sind bei der Fehlersuche auch deshalb zurückhaltend, weil sie darauf getrimmt sind, rechtssichere Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen, die zwar nicht jedem gefallen, aber nicht vom nächsten Verwaltungsgericht zerpflückt werden sollten. Transparent sein, Fehler bekennen und trotzdem rechtssichere Entscheidungen treffen – das ist die Herausforderung.
„Unser Credo muss sein: Fehler zu bekennen wird belohnt, Fehler verschweigen wird sanktioniert“
„Wir brauchen die innere Bereitschaft und letztlich eine verinnerlichte Kultur, zu lernen und uns permanent selbst zu hinterfragen“, sagt Judith Horrichs. Die Juristin ist in der neu geschaffenen Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) Ansprechpartnerin für das Nationale Begleitgremium. Also für jene Gruppe, die das Auswahlverfahren für ein Endlager bis hin zur Entscheidung eng begleiten und darüber eine möglichst breite Akzeptanz gewährleisten soll. Klingt erst einmal gut, dürfte sich aber als Prüfung für Langstreckenläufer erweisen. „Natürlich ist das alles ein Experiment“, sagt Horrichs. „Aber ein Experiment, von dem sehr viel abhängt.“
Die Frau, die diesen Prozess steuern und das Unmögliche möglich machen soll, heißt Ursula Heinen-Esser, 52. Sie ist die Chefin von Judith Horrichs und ebenfalls neu bei der BGE. Sie war Journalistin, CDU-Bundestagsabgeordnete und Umweltstaatssekretärin und hatte als solche schon vor Jahren wenig Scheu, sich mit den Autoritäten der Bürgerinitiativen in Gorleben anzulegen. Ihr größtes Pfund: die rheinische Gelassenheit. Die half ihr auch später, so manche hitzige Debatte in der Endlagersuchkommission des Bundestages herunterzukühlen.
Zur Fehlerkultur sagt sie: „Unser Credo muss sein: Fehler zu bekennen wird belohnt, Fehler verschweigen wird sanktioniert.“ Aber wie soll das funktionieren in einer Organisation, die bisher vor allem im Genehmigungsmodus arbeitete? Heinen-Esser gibt zu: „Wir fangen bei null an – das muss sich entwickeln.“ Die studierte Volkswirtin weiß längst, wo die wirklichen Klippen zu verorten sind: „Die Hauptherausforderung sind nicht die Technik und nicht die Verwaltung, es werden die Öffentlichkeit und die gesellschaftliche Zustimmung sein.“
Dass die Zivilgesellschaft mitgenommen werden muss, ist inzwischen allen Beteiligten klar. Die Netzwerk-Gesellschaft hat den Widerstand gegen sämtliche Milliardenprojekte befördert, egal ob Flughäfen, Stromtrassen oder eben ein Endlager. Die Informationsdichte, die Geschwindigkeit, die Mobilisierung – alles hat dramatisch zugenommen.
„Wir werden Formen der Mediation brauchen“, sagt Matthias Miersch, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Hannover und als Jurist seit vielen Jahren mit der Atom- und Endlagerproblematik befasst. Tatsächlich sprechen Fachleute von einem Beteiligungsparadox: Wenn noch nichts sichtbar ist außer Plänen, wäre die Beteiligungs- und Einflussmöglichkeit für betroffene Bürger jeweils groß. Aber der Bürger bleibt stumm.
Wenn dann die Pläne fertig sind und die Bagger rollen, sind die Beschlüsse in der Regel gefasst und die Beteiligungsmöglichkeiten weg. Es ist der Moment, in dem der Bürger regelmäßig laut wird. „Unsere Planungsverfahren müssen generell auf den Prüfstand“, sagt deshalb Miersch, „wir brauchen mehr Flexibilität und müssen mehr Partizipation ermöglichen.“ Anderswo haben sie das bereits verstanden – und erstaunlich flexibel umgesetzt. Eine andere Region, ein anderes Großprojekt: Zwischen Offenburg und Basel soll die Rheintal-Bahnstrecke von zwei auf vier Spuren erweitert werden. Es ist als Teil der Achse Rotterdam–Genua ein Jahrhundertding, vor über 35 Jahren begannen die ersten Planungen, bis 2040 sollen die Züge dann auf vier Gleisen rollen. 72.000 Einsprüche gingen gegen das Projekt ein, der Flächenverbrauch, der Lärm, das zerstörte Idyll – es gab und gibt viele Gründe, gegen das Projekt zu opponieren.
In einigen Abschnitten wurden früh Fakten geschaffen, in anderen schien die Planfeststellung nur eine Formsache. Aber nach den Krawallen um den Stuttgarter Hauptbahnhof schalteten Politik und Bahnchefs um. Sie gründeten einen Projektbeirat, in dem neben Bahn, Landes- und Bundespolitik auch Landräte, Kommunalpolitiker und Bürgerinitiativen vertreten sind.
Und dieser Beirat war fleißig. Er korrigierte die Trasse und erzwang neue Pläne, es gab zusätzlichen, übergesetzlichen Lärmschutz – und zwei Milliarden Euro an Mehrkosten. Damit sind in entscheidenden Fragen wichtige Hürden genommen, und in der Bahnzentrale hoffen sie, den Bau nun beschleunigen zu können. Allerdings hat noch kein Gericht darüber entschieden, wie paragraphenfest das neue, flexible Verfahren eigentlich ist.
Am Schacht Konrad hat genau diese Flexibilität von Beginn an gefehlt. Und so sind die Bürgerinitiativen der Region heute erschöpft, frustriert und versteift. Jahrzehntelang sind sie gegen die Atomenergie, den Müll und den Umgang mit der Endlagerproblematik zu Felde gezogen. Sie wurden belächelt, bekämpft, isoliert, obschon sie in vielen Aspekten ihrer Kritik rechtbehielten. Und jetzt sollen sie mitmachen bei der Suche nach dem Konsens?
Offenheit ist das Zauberwort bei Großverfahren – Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber neuen Lösungen
Sie wolle nicht mit den „Einblicken“ reden, sagt eine Frau, die seit 30 Jahren gegen die Einlagerung von Atommüll in den Schacht kämpft.
Denn das sei nur scheinbar diskursiv. Für irgendwelche Gespräche zum Thema Endlager stehe sie nicht zur Verfügung. So ist die Stimmung in vielen Initiativen. Auf einen Dialog wollen sie sich nicht mehr einlassen.
Und doch wird es den Dialog brauchen. Denn es haben sich Dinge geändert, und sie werden sich weiter ändern. Schacht Konrad zum Beispiel wurde vor über 20 Jahren genehmigt. „Heute würde man die Galerien wohl anders anlegen“, sinniert ein Fachmann, der den Schacht und seine Geologie wie sein Wohnzimmer kennt.
Wie passt man das Regelwerk also den neuen Erkenntnissen an? „Wir dürfen uns nicht festkrallen an Beschlüssen von vor 30 Jahren“, sagt Michael Sailer, 64, Chef des Öko-Instituts und als solcher seit Jahrzehnten mit der Atomkraft und ihren Abfallproblemen befasst. „Wir brauchen regelmäßige Überprüfungspunkte.“
Auch Technikchef Lautsch sieht noch Optimierungspotenzial für künftige Genehmigungsverfahren: „Es wäre sinnvoller, nicht nur Zustände, sondern vermehrt auch Prozesse zu beschreiben.“ In den angelsächsischen Ländern werde ungleich mehr auf den Prozess geachtet. „Unser Technikrecht ist zu kompliziert geworden“, befindet auch der Berliner Jurist Hartmut Gaßner. Er hat sich mit seiner Kanzlei in den letzten 25 Jahren an zahlreichen Mediationsverfahren für Großprojekte beteiligt. Sein Fazit: „Unser Recht erscheint nicht selten als ein Standortfindungsverhinderungsrecht.“
Immerhin, das eine oder andere ist passiert. Planfeststellungsverfahren sind gestuft. Für Kernkraftwerke und Zwischenlager wurden „Periodische Sicherheitsüberprüfungen“ (PSÜ) eingeführt. Alle zehn Jahre müssen die Anlagen einen Check durchlaufen. Auch die Verordnung fürs Endlager, die in Arbeit ist, soll ähnliche Überprüfungszyklen enthalten.
Wie also geht es weiter?
„Wer bei Großverfahren den Auftakt gut hinbekommt, spart sich Proteste, Zeit und am Ende Kosten“, sagt Beteiligungsexperte Oerding. Ganz ähnlich sieht es Jurist Gaßner: „Ein Verfahren, das sich nicht vermittelt, ist zum Scheitern verurteilt.“ Für BGE-Chefin Heinen-Esser ist Offenheit das Zauberwort. Offenheit aller beteiligten Akteure und Offenheit neuen Lösungen gegenüber. Auch wenn das womöglich mit radikalen Kehrtwenden verbunden sein wird: „Nicht ausgeschlossen, dass wir sehr viel Geld verbuddeln – und dann doch eine bessere Lösung daherkommt.“
Letztlich wird aber irgendwann irgendjemand kraft seines Mandats Verantwortung übernehmen müssen. Ein Bundestag, ein Landtag, ein Bürgermeister. Selbst auf die Gefahr hin, danach bestraft zu werden.