Ein Labor im Berg
Felslabor Mont Terri
von Bernward Janzing Artikel
Vor 175 Millionen Jahren lagerten sich in weiten Teilen Europas am Grund eines flachen Meeres feine Sedimente ab, die sich im Laufe der Zeit verfestigten. Diese Tongesteine finden sich heute in der Schweiz und im Süden Deutschlands, wo sie grundsätzlich als Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle infrage kommen. Im Felslabor Mont Terri wird dazu geforscht.
Eines ist sicher: An diesem Standort wird die Schweiz ihr Endlager nicht errichten – aber das war ohnehin von Anfang an klar. „Hier gibt es zu viele tektonische Bewegungen“, sagt David Jaeggi vom Bundesamt für Landestopografie swisstopo, während er durch die Stollen im Mont Terri im Kanton Jura führt. An einem Aufschluss wird erkennbar, warum dies definitiv nur ein Forschungsstandort sein kann: „Hier sieht man deutliche Faltungen im Gebirge.“ Tektonik und Faltungen, Störungsausläufer des Oberrheingrabens – „geologisch ist das ein Worst-Case-Szenario“.
Für die Forschung ist das jedoch unerheblich. Deswegen begann die Schweiz hier vor einem Vierteljahrhundert, den Opalinuston zu erforschen. Die Frage dabei: Wie verhält dieser sich als Wirtsgestein für hochradioaktiven Müll? Ursprünglich hatte die Schweiz ihre Abfälle im Granit einlagern wollen, doch in zwei Jahrzehnten intensiver Standortsuche erwiesen sich immer mehr Orte als untauglich. Am Ende blieben – weil der Alpenraum geologisch auch heute noch in Bewegung ist – im Land keine geeigneten Granitformationen mehr. So rückte der Opalinuston ins Blickfeld der Schweizer Endlagersuche – ein vor 175 Millionen Jahren aus feinen Schlammpartikeln am Grund eines Flachmeeres der Jurazeit entstandenes Sedimentgestein.
Dieses Gestein gilt es, präzise zu untersuchen. Nahe des Bahnhofs Saint-Ursanne im Nordwesten der Schweiz befindet sich das Besucherzentrum, wo jene Schweizer Organisationen, die für die Endlagerung zuständig sind, den Kontakt zur Bevölkerung suchen. Von hier blickt man hinab auf die historische Kleinstadt im Tal des Doubs. Zur anderen Seite ragt der Mont Terri empor, mit seinen gerade einmal 800 Metern ein eher kleinerer Berg am Rande des Schweizer Jura.
Eine schmale Straße führt, an Kalksteinwänden vorbei, empor zu einer Sicherheitsschleuse, durch die man ebenerdig in das Tunnelsystem gelangt. Dieses zieht sich durch eine 150 Meter mächtige, nach Südosten abtauchende Schicht des Opalinustons. Darüber: bis zu 300 Meter Fels. Als Standort für ein Tiefenlager mit hochradioaktiven Abfällen kam der Opalinuston am Mont Terri nie infrage. Hier werden nur die gebirgsmechanischen Eigenschaften eines potenziellen Wirtsgesteins erkundet.
Umso attraktiver aber fanden Forscher*innen die Formation an sich, seit man in den späten 1980er-Jahren begann, den Untergrund in dieser Gegend genauer zu erkunden. Beim Bau eines Sondierstollens für die Autobahn 16, die heute in einem 4100 Meter langen Tunnel den Mont Terri durchstößt, hatte sich nämlich gezeigt, dass der Opalinuston praktisch wasserundurchlässig ist und zudem viel standfester als erwartet.
Also begannen die zuständigen Institutionen hier mit der Analyse des Gesteins aus Sicht der Endlagertauglichkeit. Erste Experimente in kleinen Nischen entlang des Rettungsstollens der Autobahn begannen 1996. Zwei Jahre später legten swisstopo, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI, die nationale Aufsichtsbehörde) und die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) eigene Forschungsstollen an, die sich heute in einer Länge von rund 1200 Metern durch den Berg ziehen.
Arbeit an 50 verschiedenen Experimenten
Die Experimente sind in zahlreichen Nischen im Gestein angeordnet, in kleinen Ausbrüchen in Raumhöhe. Es sind Sensoren an und in den Wänden erkennbar, es sind Drähte gespannt, Messpunkte markiert, es hängen Kabel im Raum, die sich zu Strängen vereinigen und in Schaltschränken enden. „Hier arbeiten wir an 50 verschiedenen Experimenten“, sagt David Jaeggi, während er, vor einem Lageplan stehend, die Struktur des Labors mit seinen Verästelungen erläutert. David Jaeggi ist Leiter des Mont Terri Projektes, ein ruhiger, besonnener Wissenschaftler. Einer, der sein Wissen gerne vermittelt. Und dies auch gut zu vermitteln vermag.
Mitarbeiter*innen sind in den Gängen nur sporadisch zu sehen, lediglich dort, wo gerade ein neuer Versuch aufgebaut oder ergänzt wird. Vielfach geht es hier vor allem darum, abzuwarten. Zu beobachten, welche Veränderungen der Fels zeigt, welche Eigenschaften das Gestein offenbart – zum Beispiel, wenn sich Feuchte oder Temperatur ändern. Von ihren Computern in ihren Büros aus können die Wissenschaftler*innen die meisten Messungen kontinuierlich begleiten.
An zehn Experimenten ist auch die deutsche Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) beteiligt. Zudem sind aus Deutschland das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), die Gesellschaft für Anlagen-und Reaktorsicherheit (GRS) sowie diverse Helmholtz-Forschungszentren – zum Beispiel das KIT in Karlsruhe – involviert. Denn in Tonformationen hatte Deutschland in den vergangenen Jahren kaum geforscht, hier ist die Schweiz weit voraus.
Deutschland hatte sich seit den 1960er-Jahren auf Salz als Wirtsgestein konzentriert. In Westdeutschland lagerte man Atommüll im Salzbergwerk Asse ein, in Ostdeutschland in Morsleben. Als Endlager für hochradioaktive Abfälle wurde Gorleben erkundet. Der Standort war 1977 in einem umstrittenen Verfahren bestimmt worden. Jahrzehntelang kämpften Bürgerinitiativen dagegen, weil sie geologische Mängel kritisierten und den Auswahlprozess nicht nachvollziehen konnten. Deswegen begann im Jahr 2017 ein aufwendiger und transparenter Auswahlprozess – in dessen erstem Schritt der Salzstock Gorleben aus dem Verfahren ausschied, unter anderem, weil das Deckgebirge den Sicherheitsanforderungen der neuen Endlagersuche nicht standhielt.
Deutschland hatte sich seit den 1960er-Jahren auf Salz als Wirtsgestein konzentriert
Begleitung durch das BASE
Geforscht wird nicht nur im Felslabor Mont Terri, sondern zu unterschiedlichsten Themen. Das BASE begleitet das Verfahren zum Beispiel auch mit sozialwissenschaftlicher Forschung, um die Methoden und Instrumente der Öffentlichkeitsbeteiligung zu reflektieren. Das Bundesamt lässt aber auch zu Messmethoden für übertägige Erkundungsprogramme forschen, um die von der BGE eines Tages vorgeschlagenen Erkundungsprogramme besser bewerten zu können.
Die BGE ihrerseits hat die Aufgabe, Vorschläge für einen Standort zu erarbeiten. Dabei spielen geologische Fragen immer eine wichtige Rolle. Ein Forschungsprojekt zum Beispiel modelliert mögliche Erosionen durch zukünftige Vergletscherungen. Konkret geht es dabei um die Frage, ob Gletscher an potenziellen Standorten beim Abschmelzen den Untergrund so tief erodieren können, dass der Atommüll wieder freigelegt würde. Ein anderes Projekt erforscht die Entstehung und Bewertung von Störungen im Kristallingestein, die durch Bohrungen entstehen. Und es sucht nach Methoden, um solche Klüfte wieder naturidentisch zu verfüllen.
Hinsichtlich der drei potenziellen Wirtsgesteine – Salzgestein, Tongestein und kristallines Gestein – ist Deutschland in internationale Forschungskooperationen eingebunden.
Entsprechend international sind auch die Projekte am Mont Terri, wo neben der Schweiz acht weitere Nationen in Versuche eingebunden sind. Zum Teil sind neben den Institutionen auch Firmen als Partner mit im Boot, die nicht unbedingt mit Atommüll zu tun haben, sich aber gleichwohl für die Gesteinsformationen interessieren. Etwa Firmen aus der Ölbranche, die Lagerstätten zur Verpressung von Kohlendioxid (CO2) suchen.
Gesteinsveränderung durch Erwärmung
In den meisten Fällen aber steht die Lagerung hochradioaktiver Abfälle im Vordergrund des Forschungsinteresses. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, wie sich das Gestein durch Erwärmung verändert. In einem Versuch hat man daher im Mont Terri einen Heizkanister eingelagert. Dieser gibt fortwährend 1500 Watt an Wärmeleistung ab, das entspricht dem Wert eines künftigen Endlagergebindes in der Schweiz. „Das Gestein darf sich nur auf 80 bis 85 Grad erwärmen“, erklärt Jaeggi. Diese Schwelle hat der Schweizer Opalinuston in der Erdgeschichte nie überschritten. Also soll er es auch künftig nicht tun, wenn er die Nachzerfallswärme aus den Atombehältern aufnimmt. Daher beobachten die Forscher*innen nun, was die Hitze mit dem Gestein macht, hier unten im Fels, wo die Temperaturen ansonsten ganzjährig um die 13 Grad Celsius liegen.
Weiter geht die Tour von einer Nische im Fels zur nächsten, wo Buchstabencodes die jeweiligen Projekte kennzeichnen. An einem wenige Meter in den Fels reichenden Hohlraum mit dem Kürzel CD-A bleibt Jaeggi stehen. Daneben gibt es eine zweite, identische Nische, aber die ist verschlossen. Hier wird – auch im Vergleich der beiden Areale – ermittelt, welche Rolle Feuchte auf die „Excavation Damage Zone“ hat, auf jenen Bereich des Gesteins, dessen Struktur durch das Aufbrechen der Stollen gelitten hat. Denn solche Beschädigungen sind später bei der Einlagerung unvermeidlich und deshalb höchst relevant. Die Tonformation hat da einen großen Vorteil: „Das Gestein ist zur Selbstheilung fähig“, sagt Jaeggi. Risse verschließen sich langsam wieder von alleine.
Untersuchungen zur Mikrobiologie
Bei diesem Versuch steckt in der Wand unter anderem ein Extensometer, das die Dehnung einer Fuge im Verlauf der Zeit registriert. Zusammenhänge mit Änderungen von Temperatur und Feuchte werden so offenbar. Ton schrumpft nämlich bei niedriger Luftfeuchte. Im Boden steckt unterdessen auch ein Erschütterungssensor. „Der ist so empfindlich, dass er unsere Schritte registriert hat“, sagt Jaeggi im Weitergehen.
So misst man hier alles, was man sich ausmalen kann. „Thermisch, hydraulisch, mechanisch, chemisch und biologisch“, sagt Jaeggi, „das sind die Einflussgrößen, die wir im Blick haben.“ Die Untersuchungen zur Mikrobiologie mögen im ersten Moment überraschen, aber auch dieses Thema spielt unter Tage eine wichtige Rolle. Mikroben können die Korrosion metallischer Behälterwerkstoffe beschleunigen oder sogar erst ermöglichen. Dadurch kann die korrosionsbedingte Gasproduktion erhöht werden. Gleichzeitig können sie Gase, welche bei der anaeroben Korrosion von Stahl entstehen, abbauen oder umwandeln, wie sich in mehreren Experimenten in Mont Terri zeigte. All das muss man vorher wissen1.
Wichtig sind auch Messungen der Diffusion. Der Opalinuston, der hier zu 40 bis 80 Prozent aus Tonmineralen besteht, habe eine extrem geringe hydraulische Durchlässigkeit, erklärt Jaeggi. Wasser kommt hier in einer Million Jahren nur wenige Meter im Gestein voran.
Ob diese Geschwindigkeit auch für das Eindringen von Schadstoffen gilt, speziell von Radionukliden? Das ist wichtig zu wissen, weil es am Ende das Gestein sein wird, das die Stoffe zurückhalten muss. Die Behälter, so die Kalkulationen, können nach 10 000 Jahren durchgerostet sein. Dann muss das natürliche Gestein allein die Funktion als Barriere übernehmen.
Über die Ausbreitung strahlender Stoffe im Gestein soll ein Versuch aufklären, der noch bevorsteht. Ein definierter Cocktail aus radioaktiven Substanzen wird dabei in ein Bohrloch eingebracht, später wird das umgebende Gestein herausgeschnitten und im Strahlenlabor untersucht. Dann wird sich zeigen, welche Nuklide mit welcher Geschwindigkeit in das Wirtsgestein eingedrungen sind, wie gut sie also von den Tonmineralen zurückgehalten wurden. „Auch bei diesem Experiment dürfen keine strahlenden Stoffe im Untergrund verbleiben“, erklärt der Projektleiter. In den Gängen des Mont Terri ist das stets die Auflage. Alles muss sauber zurückbleiben.
In diesem Herbst gibt die Schweiz ihre Standortregion für ein Tiefenlager bekannt. Dort wird man dann erneut ein Felslabor einrichten. Man wird prüfen, ob der Opalinuston sich an dem ausgewählten Ort genauso verhält wie der Opalinuston am Mont Terri. Natur ist schließlich nicht immer homogen und muss daher stets aufs Neue begutachtet werden.
Etwa im Jahr 2029 oder 2030 könne es in der Schweiz ein Referendum zum Standort geben, sagt Jaeggi. Der Forscher weiß um die Verantwortung der Wissenschaft, auch in der dann wohl bevorstehenden politischen Debatte. Denn nur das Vertrauen der Bürger*innen darauf, dass wirklich alles erforscht wurde, was in diesem herausfordernden Kontext notwendig ist, wird die nötige Akzeptanz schaffen – und so der Schweiz den Weg zu einem Endlager ebnen können. Und das wird in Deutschland nicht anders sein.
1 Dieser Absatz wurde nach Druckschluss auf Einblicke.de aktualisiert und weicht daher inhaltlich von der Printausgabe ab.