Kein Endlager bei uns!
Über Risiken und Sorgen
von Inga Rahmsdorf Artikel
Die Suche nach dem Endlager für hochradioaktive Abfälle ist in vollem Gange. Doch die Inbetriebnahme wird noch Jahrzehnte auf sich warten lassen. Wie geht es eigentlich den Menschen, die solange in der Nähe der oberirdischen Zwischenlager leben?
„Für uns hier in Ahaus fühlt sich das Zwischenlager an wie ein Endlager“, sagt Karola Voß, Bürgermeisterin der Kleinstadt im Münsterland. Als 1992 die ersten Castoren mit radioaktiven Abfällen nach Ahaus transportiert wurden, war geplant, sie dort für knapp 40 Jahre zu lagern. Die Genehmigung für das Zwischenlager läuft 2036 aus. Doch noch steht nicht fest, ob das Endlager bis dahin gefunden sein wird. Wenn nicht, muss der Atommüll deutlich länger in Ahaus bleiben.
An 16 Standorten in Deutschland ist hochradioaktiver Atommüll gelagert. Die betroffenen Kommunen leben seit Jahren oder Jahrzehnten damit, dass bei ihnen die ausgebrannten Brennstäbe in Castoren lagern – und zwar in oberirdischen Hallen. Doch die Genehmigungen für die Betriebsdauer der Behälter ist genauso begrenzt wie die der Gebäude. Sie sollten ja auch nur vorübergehende Zwischenstationen auf dem Weg ins Endlager sein. Bis das in Betrieb genommen wird, wird es aber noch dauern. Wie lange, weiß keiner genau.
Die Standortsuche für das Endlager ist erst 2017 neu aufgerollt worden und steht noch ganz am Anfang. „Die heute lebenden Generationen werden wohl nicht mehr erleben, dass die Castoren aus Ahaus abtransportiert werden“, befürchtet Bürgermeisterin Voß. Das Zwischenlager habe sich zu einem Langzeitlager entwickelt. „Es muss aber zeitlich begrenzt bleiben“, fordert sie.
Angst vor radioaktiven Abfällen
„In Deutschland ist die Angst vor radioaktiven Abfällen weiter verbreitet als in vielen anderen Ländern“, Ortwin Renn
Fachleute gehen davon aus, dass in Deutschland nach dem Abschalten aller Kernkraftwerke etwa 10.500 Tonnen hoch radioaktive Abfälle aus Brennelementen übrig bleiben – mit einer Strahlung, die noch Hunderttausende von Jahren Mensch und Umwelt gefährden kann. Freiwillig würde wohl keine Kommune in Deutschland diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernehmen. Die Endlagerung der radioaktiven Brennstäbe in der Nähe des eigenen Wohnortes tief in der Erde? In vielen Regionen, in denen die Suche nach dem Endlager fortgesetzt wird, heißt es schon jetzt: Kein Endlager bei uns!
„In Deutschland ist die Angst vor radioaktiven Abfällen weiter verbreitet als in vielen anderen Ländern“, sagt der Risikoforscher Ortwin Renn. „Auch wenn die Suche nach einem Standort für ein Endlager natürlich nirgendwo einfach ist.“ Die Menschen sorgten sich, wenn sie daran dächten, dass die Abfälle für eine Million Jahre sicher gelagert werden müssten, sagt der ehemalige wissenschaftliche Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (heute: Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit – Helmholtz Zentrum Potsdam). „Das ist ein Zeitraum, der für uns Menschen nicht zu überblicken ist.“
Hinzu kommen Bedenken wegen einer möglichen Stigmatisierung. „Es gibt die Angst, dass der Ort nur noch mit dem Endlager identifiziert und damit zum Abfallort der Nation wird“, sagt Angstforscher Jürgen Margraf, der als Professor für Klinische Psychologie & Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum lehrt.
Für viele Menschen ist es eine gruselige Vorstellung, dass der Atommüll tief in der Erde vergraben wird. Aber ist die Vorstellung beruhigender, die radioaktiven Abfälle lange Zeit in oberirdischen Hallen zu lagern? „Denn von den lang laufenden Zwischenlagern geht schließlich auch ein Risiko aus“, sagt Renn.
So kam die Physikerin Oda Becker in einer Studie des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) 2020 zu dem Ergebnis, dass die Sicherung und Sicherheit der Zwischenlager teilweise als problematisch zu bewerten ist. Demnach ist beispielsweise der Schutz gegen potenzielle Terroranschläge nur unzureichend gewährleistet, und es fehlen Reparatur- und Inspektionsmöglichkeiten. Aus den 16 Kommunen, die derzeit und vermutlich auch noch für die nächsten Jahrzehnte die hoch radioaktiven Lasten der ganzen Nation in Hallen aufbewahren, hört man allerdings kaum Proteste. Warum eigentlich? Wie leben die Menschen damit, dass bei ihnen der hochradioaktive Abfall viel länger vor der Tür stehen wird als geplant?
Protestbewegung in Ahaus
In Ahaus protestierten in den 1990er-Jahren viele Menschen gegen den Transport und die Lagerung der Castoren. Unterstützt wurden sie von der Bürgerinitiative „Kein Atommüll in Ahaus“, die mittlerweile seit über 40 Jahren aktiv ist und sich auch aktuell gegen weitere Castor-Transporte nach Ahaus engagiert. Zugleich sei das Zwischenlager aber kein Thema, das die Bürgerinnen und Bürger ständig im Alltag beschäftige, sagt Bürgermeisterin Voß. „Es ist schwierig, ein Thema über so lange Zeit immer präsent und aufrechtzuhalten“, sagt die parteilose Kommunalpolitikerin. Es gebe schließlich viele andere Themen und Sorgen, die die Menschen umtrieben: Pandemie, Klimawandel oder der Krieg gegen die Ukraine – um nur einige zu nennen.
„Mit Gefahren und Risiken können wir als Individuum nur begrenzt rational umgehen“, sagt der Psychologe Margraf. Das liege daran, dass der Mensch nur begrenzt freie Kapazitäten habe, um Informationen zu verarbeiten. Dadurch seien Ängste oft nicht begründet. „Es gibt eine kognitive Grundregel, von der wir uns nicht frei machen können. Die besagt: Wir überschätzen alles, was uns außergewöhnlich, unfreiwillig und nicht alltäglich vor kommt“, sagt der Angstforscher. „Im Umkehrschluss unterschätzen wir die Risiken von gewöhnlichen und alltäglichen Handlungen.“
Das erkläre auch, warum die Angst vor einem Endlager für viele Menschen deutlich präsenter und größer sei als die Angst vor möglichen Risiken, die von einem Zwischenlager ausgingen. „Es gibt einen Gewöhnungseffekt, der automatisch und unbewusst abläuft. Wir Menschen gewöhnen uns an fast alles, im Guten wie im Schlechten, da jedes Thema irgendwann wieder in den Hintergrund tritt“, sagt Margraf. Könnten wir uns also auch an ein Endlager im eigenen Ort gewöhnen? „Ja“, sagt Margraf.
Das Beispiel Brokdorf
„Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass das, mit dem wir uns nicht vertraut fühlen, eher Angst auslöst als das, was uns vertraut ist“, sagt Risikoforscher Renn. „Und das gilt auch für Nuklearanlagen.“ Für die Kommunen, in denen bereits Kernkraftwerke oder Zwischenlager stehen, ist das Thema Atommüll ja schon lange Teil der Geschichte.
Das zeigt sich auch in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Brokdorf. „Die Bevölkerung hat das Kernkraftwerk angenommen“, sagt Bürgermeisterin Elke Göttsche. „Es ist eine feste Größe in der Gemeinde.“ Es gebe zwar eine kleine Bürgerinitiative, aber große Proteste habe es in Brokdorf auch 2007 nicht gegeben, als das Zwischenlager für radioaktive Abfälle errichtet wurde. „Das liegt natürlich auch daran, dass das Kraftwerk Arbeitsplätze in der Region geschaffen hat und es nie nennenswerte Zwischenfälle gab.“
„Wenn uns etwas langsam vertraut wird, wächst in uns das Gefühl, Kontrolle darüber zu haben“, sagt Renn. Die Angst vor Risiken nehme dadurch ab. „Wenn jetzt die Atomkraftwerke abgeschaltet werden und in den betroffenen Kommunen die Zwischenlager weiterlaufen, ist dadurch auch eine gewisse Kontinuität gegeben, die gewissermaßen beruhigend wirkt.“
Aber auch wenn sich die Menschen in Brokdorf und Ahaus an den Atommüll nebenan gewöhnt haben, bedeutet es nicht, dass sie das Zwischenlager als Dauerzustand akzeptieren. Eine Dauerlösung dürften sie nicht sein, betonen sowohl Göttsche als auch Voß.
Transparenz ist essentiell
Die Auswahl eines Endlagerstandortes könne letztendlich von der Gesellschaft nur akzeptiert werden, wenn sie wissenschaftlich und unabhängig begründet werde, meint Risikoforscher Renn. Und betont, dass der Prozess über jeden Zweifel erhaben sein und transparent ablaufen müsse. Mit diesem Ziel wurde 2017 auch das Standortauswahlgesetz verabschiedet, das ein mehrstufiges Suchverfahren unter bestimmten Kriterien festlegt, um den am besten geeigneten Standort für ein Endlager zu finden. Auch die Betriebsgenehmigung für das Zwischenlager in Brokdorf ist begrenzt. Sie läuft bis 2047 und muss, wie in Ahaus, verlängert werden. Bürgermeisterin Göttsche wünscht sich daher, dass die Bevölkerung der Gemeinde von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) regelmäßig vor Ort über das Standortauswahlverfahren informiert wird, so wie es auch die BGZ Gesellschaft für Zwischenlagerung regelmäßig macht.
Wichtig sei auch, dass die radioaktiven Abfälle nicht noch unnötig durch die Bundesrepublik transportiert würden, fordert Voß. „Für den Atommüll, der bereits hier in Ahaus ist, übernehmen wir die gesellschaftliche Aufgabe. Aber weitere radioaktive Abfälle sollten an den jeweiligen Standorten zwischengelagert bleiben, an denen sie sich befinden.“
Daher klagt die Stadt auch gegen weitere Castor-Transporte in die Gemeinde. Und sie fordert auch, dass die Zwischenlager nicht auf wenige zentrale Standorte zusammengefasst werden. „Wir haben große Sorge, dass dann bundesweit die Motivation abnehmen würde, nach einem Standort für ein Endlager zu suchen“, sagt Voß. Die beiden Bürgermeisterinnen wünschen sich, dass mit Hochdruck nach dem Endlagerstandort gesucht wird.