Lernen für eine ferne Zukunft
Endlagersuche
03.11.2023 von Judith Jenner Reportage
Mit Zehntklässler*innen einer Gemeinschaftsschule in Jena nähert sich die Physiklehrerin Marion Durst dem Thema Endlagerung und Radioaktivität. Wir haben den Projekttag begleitet.
Was hat Katzenstreu mit Radioaktivität zu tun? Nichts, beschließen die Schüler*innen der Klasse 10 a der Gemeinschaftsschule Wenigenjena. An einer Magnettafel im Klassenraum wandert die Karte mit dem Begriff zusammen mit Erdbeeren und Bananen auf die rechte Seite. Auf der linken sind Begriffe wie Atomreaktor, Krebstherapie und iPad vereint – für die Teilnehmer*innen des Projekttages eindeutig Dinge, die mit radioaktiver Strahlung zu tun haben.
„Moment mal, iPad?“, wirft Marion Durst ein. „Ihr habt ja ein Vertrauen. Würden wir euch die Geräte täglich im Unterricht nutzen lassen, wenn davon gefährliche Strahlung ausginge?“ Die Jugendlichen kommen ins Grübeln über natürliche und künstliche Strahlungsquellen – genau das möchte die Lehrerin erreichen.
Marion Durst ist neben ihrer Arbeit an der Schule Mitglied des Nationalen Begleitgremiums (NBG), das als unabhängige, bürgernahe Organisation die bundesweite Suche nach einem Endlagerstandort begleitet. Sie steckt also weit tiefer in der Debatte um Atomkraft und die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle als viele andere Menschen.
Deshalb weitet sie das Thema Radioaktivität auf diese Fragen aus. Es steht für die 10. Klassen in Physik auf dem Lehrplan. Für November ist dafür eine fächerübergreifende Projektwoche geplant.
Vorbild für bürgerschaftliches Engagement
Für Marion Durst hat das Thema nicht nur etwas mit ihrem Fach Physik zu tun. Als NBG-Mitglied möchte sie Vorbild sein in Sachen bürgerschaftliches Engagement und zeigen, wie man sich in gesellschaftliche Prozesse einbringt. „Dafür müssen die Jugendlichen allerdings verstehen, was Radioaktivität und die Suche nach einem Endlager überhaupt mit ihnen persönlich zu tun hat“, betont Marion Durst.
Thüringen hat als einziges Bundesland weder ein Atomkraftwerk noch Testreaktoren oder Atommülllager. „In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Thema hier daher kaum präsent“, merkt Marion Durst an. Vielleicht wäre das anders, wenn ihre Schule in Niedersachsen läge. Der zivile Protest gegen ein Endlager in Gorleben dürfte dort auch jüngeren Menschen etwas sagen.
Zugleich ist die Gegend um Jena im Zwischenbericht Teilgebiete der BGE als Teilgebiet ausgewiesen. Das bedeutet, dass hier aufgrund der geologischen Beschaffenheit gute Voraussetzungen für die sichere Endlagerung hochradioaktiver Abfälle zu erwarten sind. In Zukunft könnten sich die Zehntklässler*innen von Marion Durst also mit der Frage beschäftigen, ob Abfälle aus Atomkraftwerken rund um ihre Heimatstadt gelagert werden. Denn auch wenn der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland vollzogen ist und alle Atomkraftwerke abgeschaltet sind, wird die Frage der Lagerung hochradioaktiver Abfälle noch Generationen beschäftigen.
Doch bevor Marion Durst mit ihnen diese Debatte führen kann, lässt sie die Schüler*innen erst einmal auf Tuchfühlung mit dem Themenfeld Radioaktivität und Endlagerung gehen. An insgesamt sechs Stationen nähern sich die Jugendlichen ihm interaktiv an. Einige Aufgaben sind bewusst so konzipiert, dass sie ihrer Imagination freien Lauf lassen dürfen.
So wird in einem Raum „Activity“ gespielt. Die Teilnehmer*innen stellen pantomimisch, umschreibend oder mit einer Skizze auf einem Flipchart Begriffe dar. Helena macht buddelnde Bewegungen und deutet mit den Händen einen Hügel an. „Bergbau?“, ruft ein Mitschüler. Fast: „Bergmann“ lautet der gesuchte Begriff. Ein solcher kommt im Klassenzimmer nebenan zu Wort. Dort läuft ein Film über die „Wismut“. Unter diesem Namen bauten die Sowjetunion und die DDR in Sachsen und in Thüringen bis 1990 Uran ab. Zeitzeug*innen berichten in der Dokumentation von den gesundheitsgefährdenden Bedingungen, unter denen sie das radioaktive Erz an die Erdoberfläche brachten.
Die Schüler*innen kennen den Ort: „Da waren wir auf Klassenfahrt“, ruft Paul. Tatsächlich kommt sein Klassenlehrer Frank Benicke aus dem Erzgebirge und hat mit den Jugendlichen eine Reise in das deutsch-tschechische Grenzgebiet unternommen. Dort, etwa 130 Kilometer südöstlich von Jena, wurde mit der Uranförderung die Basis für das sowjetische Atomprogramm geschaffen. „Einige Kinder haben sogar Großväter, die in der Wismut gearbeitet haben. Sie ist in den Familien ein Begriff“, sagt Marion Durst. Plötzlich rückt das Thema Radioaktivität buchstäblich näher.
Strom und Waffen
Im Laufe des Tages füllt sich auch die Mindmap an der Wand mit Antworten auf die Frage „Was hat Radioaktivität mit mir zu tun?“ Es sind Assoziationen wie Krebs, Waffen, Strahlung und Strom. Auch der Hollywoodfilm „Oppenheimer“, in dem es um die Entwicklung der Atombombe geht, wird genannt. Gorleben steht nicht auf dem Plakat, dafür fallen den Jugendlichen die Orte Tschernobyl, Hiroshima und Nagasaki ein.
„Aber ist das nicht alles schon sehr lange her?“, fragt Marion Durst provokant. Noah findet die Lehren aus Atomschlägen und Reaktorunfällen nach wie vor aktuell. „Wenn Atomwaffen damals schon eine solche Zerstörung anrichten konnten, dann sind sie heute noch viel gefährlicher“, folgert er. Umso wichtiger sei es, den Einsatz solcher Waffen zu verhindern.
Was die Energieversorgung betrifft, sind sich die Schüler*innen uneins. Maria befürwortet, dass in Deutschland alle Atomkraftwerke abgeschaltet wurden und nun nach und nach abgebaut werden. Baldur entgegnet, Deutschlands Alleingang beim Ausstieg würde wenig bringen. „Wenn Nachbarländer wie Frankreich weiterhin Atomkraftwerke am Laufen halten, müssen wir nicht unsere sichere Energieversorgung aufs Spiel setzen“, meint er. „Immer hat Deutschland beim Umweltschutz die schärfsten Regeln. Das bringt doch nur etwas, wenn alle mitmachen.“ Ein Klassenkamerad spricht das Thema Atommüll an. „Wird der nicht von den USA und Kanada ins All geschossen?“ Nein, wird er natürlich nicht – auch wenn diese Option immer wieder mal durchgespielt und stets verworfen wurde. Viel zu teuer, viel zu unsicher.
Marion Durst kann nicht alle Fragen klären. Nur die Sache mit dem Katzenstreu möchte sie noch klarstellen. Diese enthält meist das Tonmineral Bentonit, das auch für die Endlagerung radioaktiver Abfälle verwendet wird. Wie das funktioniert, wird sie noch ausführlich im Unterricht behandeln. Das Thema wird dann die sichere Abdichtung eines künftigen Endlagers sein.
Das Nationale Begleitgremium
Im NBG sind zwölf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – berufen von Bundestag und Bundesrat ‑ gemeinsam mit sechs zufällig ausgewählten Bürger*innen und Vertreter*innen der jungen Generation organisiert. Diese 18 Personen begleiten die Suche nach dem Endlager für hochradioaktive Stoffe.
Mehr Informationen zum Nationalen Begleitgremium (externer Link)