Nicht vor meiner Tür!

NIMBY

10.12.2024 Artikel

Was haben Müllverbrennungsanlagen, Windparks und Rechenzentren gemeinsam? Richtig, die Anlagen sind für unser modernes Leben unverzichtbar geworden. Doch nur die wenigsten Menschen befürworten sie in ihrer Nachbarschaft. Eine funktionierende Müllentsorgung? Auf jeden Fall. Aber keine Verbrennungsanlage am Ortsrand. Die Haltung dahinter heißt NIMBY – „Not in my Backyard“. Und sie beginnt dort, wo eigene Komfortzonen über das Gemeinwohl gestellt werden. Auf den ersten Blick wirkt das unsympathisch. Aber ist es das? Oder, anders gefragt: Wie gelingt Fortschritt, ohne dass Einzelne die negativen Begleiterscheinungen über Gebühr schultern müssen?

Oft geht es bei NIMBY nicht nur um persönliche Abwehr, sondern auch um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und strukturelle Ungerechtigkeit. Denn in der Realität landen unerwünschte Projekte häufig an Orten, die wirtschaftlich schwächer aufgestellt sind, weniger politische Unterstützung haben oder strukturell als „belastbar“ gelten. So entsteht eine Ungleichheit, die selten benannt wird, aber immer mitschwingt: Wer kann sich wehren – und wer nicht?

NIMBY ist also kein einfacher Reflex, sondern ein komplexes Phänomen: Mal ist es Ausdruck berechtigter Sorge, mal eine legitime Interessenvertretung, häufig beides zugleich. Aber gerade weil das Phänomen nicht so eindeutig ist, lohnt sich ein zweiter Blick: Woher kommt der Widerstand? Und was sagt er über die Gesellschaft aus, in der er entsteht?


Warum NIMBY so menschlich ist

Die meisten Menschen halten sich für rational und aufgeklärt. Und zumeist sind sie auch gemeinschaftsorientiert, so der Psychologe und Autor Borwin Bandelow im Gespräch mit Einblicke. Umso erstaunlicher ist es, wie schnell sich diese Prinzipien verflüchtigen, wenn ein Großprojekt in der unmittelbaren Nachbarschaft droht. Plötzlich überwiegt der Wunsch nach Ruhe, nach Sicherheit, nach Kontrolle über das eigene Lebensumfeld. Warum?

Psychologisch betrachtet hat dieses Verhalten einen Namen: Verlustaversion. Der Begriff beschreibt die Tendenz, mögliche Verluste deutlich stärker zu gewichten als mögliche Gewinne. Zumal die Schatten des Windrads individuelle Verluste sind, während der Gewinn – also die klimafreundlichere Energieerzeugung – der Allgemeinheit zugutekommt. Ähnlich wirkt auch die sogenannte Status-quo-Verzerrung: Menschen bevorzugen den gegenwärtigen Zustand, selbst wenn objektiv Besseres möglich wäre. 

Hinzu kommt: Großprojekte bringen häufig auch ganz reale, konkrete Nachteile mit sich: steigende Mieten, zusätzliche Belastungen durch Lärm und Verkehr, Eingriffe in gewachsene Strukturen oder die Zerstörung von Natur- und Lebensräumen. Wenn diese Nachteile nicht offen benannt und ernst genommen werden, droht die öffentliche Debatte aus dem Gleichgewicht zu geraten. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen und großer Umbrüche wird das bestehende Misstrauen zusätzlich verstärkt – etwa durch eine allgemeine Erosion des Vertrauens in Institutionen oder das Gefühl, als Bürger*in nicht wirklich gehört zu werden. 


Fehlt Beteiligung, wird es teuer

Gleichzeitig steht hinter vielen NIMBY-Protesten auch ein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Mitgestaltung. Oft geht es darum, Einfluss auf das eigene Lebensumfeld zu nehmen – ein Anliegen, das in einer demokratischen Gesellschaft legitim ist. Natürlich kann dieser Wunsch mit Eigeninteressen verbunden sein. Doch gerade darin zeigt sich die Herausforderung: Demokratie lebt nicht vom geräuschlosen Durchregieren, sondern macht individuelle Interessen transparent und balanciert sie mit dem Gemeinwohl aus. Bürger*innen, die sich engagieren, bringen wertvolle Perspektiven ein. Bürgerinitiativen weisen oft auf blinde Flecken hin: ökologische Risiken, fehlende Infrastruktur, soziale Schieflagen. Sie machen sichtbar, was in Gutachten nicht auftaucht – wie die emotionale Bindung an Orte oder die Lebensrealitäten vor Ort. Wer in diesem Prozess gehört wird, akzeptiert eher unbequeme Entscheidungen. Wer sich ausgeschlossen fühlt, wendet sich ab – oder wehrt sich.

Der Fall Gorleben zeigt, was passiert, wenn Beteiligung fehlt und Entscheidungen von oben durchgedrückt werden: Ende der 1970er-Jahre wurde der kleine Ort in Niedersachsen als Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle ausgewählt – weitgehend ohne öffentlich bekannte geologische Vergleichsstudien, ohne transparente Verfahren, ohne die Einbindung der lokalen Bevölkerung. Der Widerstand ließ nicht lange auf sich warten: Demonstrationen, Mahnwachen, internationale Aufmerksamkeit. Dass das Großprojekt im Hauruckverfahren durchgepeitscht wurde, hat sich später gerächt: Nach jahrzehntelangen Protesten wurde 2017 ein neues Standortauswahlverfahren gestartet. Im Jahr 2020 wurde Gorleben als Standort verworfen, weil er die geowissenschaftlichen Kriterien des neuen Verfahrens nicht erfüllt.

Doch wie trifft man eine faire Entscheidung über ein Projekt, das niemand will, das aber allen nützt? Der Philosoph John Rawls liefert dazu ein kraftvolles Gedankenexperiment: den „Schleier des Nichtwissens“. Stellen wir uns vor, wir müssten Regeln für eine Gesellschaft entwerfen – ohne zu wissen, welchen Platz wir darin einnehmen: arm oder reich, Stadt oder Land, betroffen oder nicht. Unter diesen Bedingungen würden Menschen besonders umsichtig entscheiden: fair und ausgewogen, weil niemand riskieren möchte, auf der schlechten Seite zu stehen.


„Warum gerade hier?“ lässt sich letztlich nur beantworten, wenn auch jemand fragt: „Warum nicht auch bei uns?“

Kreativer Widerstand gegen die Endlagerung von Atommüll in Gorleben

Ein hilfreicher Denkrahmen

Rawls leitet daraus zwei Prinzipien ab: Zum einen sollen gleiche Grundfreiheiten für alle gelten – das Gleichheitsprinzip. Andererseits werden Ungleichheiten nicht per se ausgeschlossen. Sie sind aber nur dann akzeptabel, wenn sie den Schwächsten nützen und Chancen für bessere Positionen grundsätzlich allen offenstehen – das Differenzprinzip. Überträgt man dieses Prinzip auf die Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll, heißt das: Sicherheit zuerst, nicht politisches Kalkül. Und: Wer eine besondere Last trägt, muss laut Rawls einen gerechten Ausgleich bekommen – etwa in Form von Infrastruktur, Bildung, kulturellen Angeboten und echter Mitsprache.

Natürlich ist Rawls’ Modell idealisiert. In der Realität spielen Interessen, Macht und Pragmatismus eine große Rolle. Aber gerade deshalb ist der „Schleier des Nichtwissens“ ein hilfreicher Denkrahmen: Würde ich eine Entscheidung auch dann akzeptieren, wenn ich auf der benachteiligten Seite stünde?


Eurajoki: das finnische Beispiel

Ein Blick nach Finnland zeigt, wie Rawls’sche Gerechtigkeit praktisch wirken kann. In Eurajoki, dem Standort des weltweit ersten Endlagers für hochradioaktiven Abfall, wurde von Anfang an auf Transparenz, Dialog und faire Beteiligung gesetzt. Außerdem erhielt die Gemeinde erhebliche Mittel für öffentliche Infrastruktur, Schulen und Kulturprojekte – aber nicht als „Schweigegeld“, sondern als Anerkennung für die übernommene Verantwortung. Wichtig war dabei vor allem die lange, offene Phase der Entscheidungsfindung – mit echten Teilhabemöglichkeiten für die Bevölkerung.

Auch die Bundesrepublik Deutschland setzt bei der Suche nach einem sicheren Endlager für hochradioaktiven Abfall auf wissenschaftlich fundierte Bewertung, Transparenz, fairen Dialog und Beteiligung. Das 2017 verabschiedete Standortauswahlgesetz schreibt verbindlich vor, dass nicht politische Erwägungen, sondern die Geologie über den Standort entscheiden soll.

Aufgabe der BGE ist es, den Ort mit den günstigsten geologischen Voraussetzungen für ein Endlager zu ermitteln. Ein erster Schritt ist getan: Im Jahr 2020 wurden circa 46 Prozent der deutschen Landesfläche für einen möglichen Standort ausgeschlossen. Die dortigen Bodenbewegungen, ein zu weiches Gestein nahe der Tagesoberfläche oder vulkanische Aktivität erwiesen sich als untauglich für ein Endlager. Nun wird die Fläche weiter eingegrenzt, dann geht es mit übertägigen Erkundungen weiter, später mit weiteren Untersuchungen – bis am Ende eine klare Empfehlung für einen Standort steht. Über den stimmt final das Parlament ab.


Wie aus der Zumutung eine Chance wird

So ambitioniert das Verfahren ist, so herausfordernd bleibt es: Die Wissenschaft liefert Fakten, aber keine Akzeptanz, wie es Ranga Yogeshwar auf Seite 11 dieses Hefts beleuchtet. Akzeptanz muss gesellschaftlich wachsen: über Vertrauen, Dialog und Beteiligung. Die BGE kann berechnen, welches Gestein am stabilsten ist. Ob eine Region bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, entscheidet sich nicht im Labor, sondern erst im öffentlichen Diskurs.

Die Endlagersuche ist also mehr als ein technisches Großprojekt. Sie ist ein gesellschaftlicher Stresstest: für unser Verständnis von Gerechtigkeit, für unsere Fähigkeit zur Beteiligung und für das Vertrauen in staatliches Handeln. Sie zwingt uns dazu, über den eigenen Gartenzaun hinauszudenken – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Denn eines ist klar: Irgendwo müssen die strahlenden Abfälle hin, um für lange Zeit sicher zu sein. Und die Frage „Warum gerade hier?“ lässt sich letztlich nur beantworten, wenn auch jemand fragt: „Warum nicht auch bei uns?“

In diesem Heft kommen viele Stimmen zu Wort: Philosophinnen, Filmemacher, Aktivisten und Bürgermeisterinnen. Sie zeigen, wie unterschiedlich man auf das Phänomen NIMBY blicken kann – und wie wichtig es ist, nicht vorschnell zu urteilen, sondern genau hinzuhören. Am Ende bleibt eine Frage, die jede und jeder für sich selbst beantworten muss: Bin ich bereit, nicht nur vom Gemeinwohl zu profitieren, sondern auch etwas dazu beizutragen?


Der Autor

Einblicke-Redakteur Philipp Hauner hat sich schon in seinem Studium der Politikwissenschaft mit John Rawls befasst. Die Idee vom „Schleier des Nichtwissens“ findet er simpel und zugleich genial – und deswegen so überzeugend.

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