Rückbau Rheinsberg

03.12.2018 von Florian Sievers Reportage

Einleitung

In einem Wald am Stechlinsee demontieren Arbeiter seit mehr als 20 Jahren das älteste Atomkraftwerk Deutschlands. Wann sie endlich fertig sein werden, kann niemand genau sagen

Von Florian Sievers

Vom Verschwinden des ersten Atomkraftwerks der DDR

Minutenlang schon zeigt das Navigationsgerät im Auto nur noch eine waldgrüne Fläche. Offiziell gibt es hier gar keine Straße. Auf der betonierten Zufahrt, die trotzdem durch den Wald verläuft, endet die Fahrt vor zwei Metalltoren mit Friedenstauben darauf. Hinter den Vögeln kreisen Elektronen um Atomkerne.

Als diese Tore vor mehr als 50 Jahren errichtet wurden, war dies hier Staatsgebiet der DDR, und die Tauben auf den Toren symbolisierten den friedlichen Gebrauch der Atomenergie. Denn hier, mitten in einem Wald nahe dem Städtchen Rheinsberg, rund 80 Kilometer nördlich von Berlin, hatte der sozialistische Staat damals das erste wirtschaftlich genutzte Atomkraftwerk auf deutschem Boden errichtet: Das VE Kombinat Kernkraftwerke „Bruno Leuschner“ (externer Link) sollte dem Westen die Überlegenheit des Sozialismus bei dieser Zukunftstechnologie vorführen. 1966 ging der kleine Druckwasserreaktor sowjetischer Bauart in Betrieb, der mit 70 Megawatt gerade mal genug Strom für eine Stadt wie Potsdam lieferte.


1957 plante die DDR 20 AKW, letztlich wurden es zwei: Neben Rheinsberg lieferte noch das AKW Greifswald mit fünf Reaktoren Strom. Nach der Wende wurde der marode Zustand der DDR-Atomwirtschaft überdeutlich.


Gittertor mit strahlender Friedenstaube in der Mitte, an dem ein Stopp-Schild hängt
© BGE
Strahlende Friedenstaube: Tor zum AKW Rheinsberg

Die Wartung der AKW war unzureichend, die Technik veraltet und die Belegschaften zum Teil ohne genauere Informationen. Nach der Wende erwies sich die Anlage jedoch schnell als nicht mehr zeitgemäß. Zu veraltet die Technologie, zu riskant der Betrieb so nah an der Millionenstadt Berlin. Schon 1990, noch vor der offiziellen Wiedervereinigung von Ost und West, wurde das Atomkraftwerk Rheinsberg abgeschaltet, zumal die Betriebsgenehmigung ohnehin nur bis 1992 galt. Fünf Jahre später begann die Belegschaft, ihre eigene Anlage zu demontieren – oder rückzubauen, wie der Fachausdruck lautet. Heute, mehr als 20 Jahre später, lässt sich in Rheinsberg immer noch besichtigen, was das heißt: der Rückbau eines Atomkraftwerks. Denn fertig sind sie hier noch lange nicht.


Die deutschen Rückbauspezialisten haben schon russische Atom-U-Boote auseinandergenommen.

Hinter den Toren mit den Tauben ist an bewachten Schranken erst mal Schluss für unangemeldete Besucher. Sperrzone.

Dahinter ein Industrieensemble aus einem denkmalgeschützten Sechziger-Jahre-Bürogebäude, einem 120 Meter hohen Schornstein sowie einem riesigen grauen Kasten – das Reaktorgebäude, mitten in einem Naturschutzgebiet gelegen. Hier werkelt die EWN GmbH seit Jahrzehnten am Rückbau. Das Firmenkürzel stand einst für „Energiewerke Nord“, heute bedeutet es „Entsorgungswerk für Nuklearanlagen“. Das ist angemessener, denn mit seinen Projekten in Rheinsberg sowie im wesentlich größeren DDR-Atomkraftwerk in Lubmin bei Greifswald hat sich das staatseigene Unternehmen zu einem weltweit gefragten Rückbauspezialisten entwickelt: Schon vor dem Atomausstieg 2011 betreuten EWN-Fachleute Kraftwerksdemontagen in ganz Deutschland, zudem sind sie Experten für Reaktoren sowjetischer Bauart, die sie in verschiedenen ehemaligen Ostblockländern wie Bulgarien abwracken. In Murmansk hat EWN sogar schon für Russland die Reaktoren Dutzender Atom-U-Boote demontiert.


1995 schien das Projekt in Rheinsberg noch überschaubar, in ein paar Jahren sollte alles erledigt sein. „Als wir anfingen, haben wir gedacht, wir haben das Gröbste hinter uns, wenn erst mal der Reaktordruckwasserbehälter samt Einbauten, die Großkomponenten, der Brennstoff sowie die Pumpen und Rohrleitungen weg sind“, sagt Sylke Schubert, studierte Kraftwerksingenieurin und Projektmanagerin. Als Erstes verkaufte EWN unbenutzte Brennstäbe in die USA. Hochstrahlende Anlagenteile wurden unter Wasser zerlegt. Und den Druckwasserbehälter verluden Arbeiter 2007 im Ganzen auf einen Schwerlast-Zugwaggon und schafften ihn unter einer Schutzhülle in das Zwischenlager Nord in Lubmin bei Greifswald. Heute klafft in dem 50 Meter hohen Reaktorsaal zwischen altgrünen Schaltschränken aus den Sechzigern und Dutzenden gelben Müllfässern ein großes Loch, wo früher der Reaktor strahlte.

Gebäude mit Parkplatz, eine große Halle im Hintergrund
© BGE
Das Kraftwerk von außen

Damit war zwar ein Großteil der starken Strahlung aus dem Gebäude verschwunden. Doch die wirklich komplizierten Aufgaben sollten erst beginnen. Denn die Planer in Rheinsberg hatten die Arbeiten im Gebäude selber unterschätzt. Die DDR-Konstrukteure hatten den kritischen Bereich in rund 320 Räume aufgeteilt, damit sich bei einem Notfall austretendes radioaktiv belastetes Gas oder Wasser nicht einfach ausbreiten konnte. Das hat zur Folge, dass heute Arbeiter auf teils engstem Raum Rohre, Pumpen oder schiffsgroße Speichertanks zerlegen und die Bruchstücke mühselig in Fässern aus dem Gebäude schaffen müssen. Im kontrollierten Bereich herrscht zur Sicherheit Unterdruck, sodass sich nicht einfach mal eine Wand nach draußen einreißen lässt.

Rohre müssen aus meterdicken Wänden geholt werden

Das wäre ohnehin schwierig, denn die Wände sind teils meterdick und mit Stahl armiert. Darin haben die Konstrukteure einst viele Rohrleitungen verlegt, um die Beschäftigten vor der Strahlung zu schützen. In Biegungen und Abzweigungen könnte sich kontaminierter Staub abgelagert haben. Doch die Rohre lassen sich nicht einfach so erkunden und säubern – geschweige denn aus den bunkerdicken Wänden stemmen. Zumal oft unklar ist, wo genau sie eigentlich verlaufen. Denn es gibt zwar Konstruktionspläne – aber immer wieder haben die Bauarbeiter improvisiert, als sie die Anlage vor mehr als 50 Jahren errichtet haben, sodass Rohre und Leitungen in der Realität anders verlaufen als auf dem Papier eingezeichnet. Außerdem steckt die Strahlung oft auch in den Wänden selbst oder ist mit belasteter Flüssigkeit unter Bodenwannen gesickert. So müssen die Arbeiter nun Quadratmeter für Quadratmeter messen. Belasteter Beton wird abgetragen und geht zusammen mit strahlenden Rohren und Anlagenteilen ins Zwischenlager. „Wir machen Raum für Raum leer, das ist eine sehr schwere Geburt“, seufzt Projektleiterin Schubert.


„Wir machen Raum für Raum leer, das ist eine sehr schwere Geburt.“

Zu der schweren Geburt gehört auch, dass das Unternehmen quasi nebenbei noch ein Endlager für feste und flüssige radioaktive Betriebsabfälle räumt, das einst zum Kraftwerk gehörte. Dort waren, in Betonkavernen zehn Meter unter der Erde, sogar hochradioaktive Materialien endgelagert. Schon 1998 wurde das Lager geleert, zurzeit wird es unter einer extra errichteten Halle langsam abgerissen und seinerseits in Lagerbehälter verpackt. Die gehen, wie das gesamte Material aus Rheinsberg, ins Zwischenlager Nord nach Lubmin bei Greifswald. Insgesamt, so schätzt das Abbruchunternehmen für atomare Altlasten, fallen in Rheinsberg 342.000 Tonnen Material an, davon 63.000 Tonnen radioaktiv belastet, die weiterbearbeitet, gereinigt oder endgelagert werden müssen. Eine Herkulesaufgabe.


Arbeitsplatz mit Schaltern, einer Uhr und Dokumenten
© BGE
Das war mal ein moderner Arbeitsplatz.

Als den Planern bei EWN der Umfang ihres Unterfangens klar wurde, haben sie ihren Plan geändert. Ursprünglich wollte EWN das Gebäude selbst 50 Jahre lang abklingen lassen, nachdem alle Geräte und Anlagen entfernt wurden, um es dann ganz konventionell abreißen zu können. Doch inzwischen gehen die Rückbauspezialisten davon aus, dass das zu riskant und zu teuer wäre. Schließlich müsste die strahlende Anlage fünf Jahrzehnte lang gesichert werden. Wenn dann endlich der Abriss ansteht, lebt fast niemand mehr von der ursprünglichen Belegschaft, der sich noch wirklich auf der Baustelle auskennt.

Das AKW ist immer noch der größte Arbeitgeber vor Ort

Stattdessen soll demnächst die momentan rund 170 Arbeiter umfassende Belegschaft aufgestockt werden, um das Projekt voranzubringen. Schon jetzt ist das Atomkraftwerk der größte Arbeitgeber in Rheinsberg, ganz wie zu DDR-Zeiten. Viele Arbeiter von damals fahren noch immer jeden Tag zur Schicht ins Kraftwerk – und machen heute ihr eigenes ehemaliges Prestigeprojekt dem Erdboden gleich. „Am Anfang tat es den Leuten noch weh“, erinnert sich die EWN-Managerin Schubert. Doch dann habe irgendwann ein Umdenken eingesetzt. Und das sei auch gut so, denn die alte Belegschaft wisse schließlich genau, wo und wie vielleicht mal was ausgelaufen ist oder auf welche Weise eine Maschine einst installiert wurde. „Es wäre dumm, dieses Know-how nicht zu nutzen“, sagt Schubert.

Die veranschlagten Kosten haben sich derweil mehr als verdoppelt: Inzwischen rechnet EWN mit circa einer Milliarde Euro Gesamtkosten, inklusive des Rückbaus des Endlagers auf dem Gelände. Und auch der Zeitplan ist schon mehrfach überarbeitet worden. Ursprünglich sollte schon 2012 nur noch eine „grüne Wiese“ im Naturschutzgebiet Stechlin erhalten bleiben. Von diesem Ziel ist das Unternehmen längst abgerückt. Die aktuellen Planungen laufen bis 2025, doch auch sie werden gerade wieder überarbeitet. „Wie viel Zeit das Projekt noch genau in Anspruch nehmen wird, lässt sich nicht exakt angeben“, sagt Sylke Schubert, „das wäre Kaffeesatzleserei.“

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