Zärtliche Fräsen
07.06.2016 von Dirk Gieselmann Bericht
Einleitung
In Karlsruhe erforscht man Methoden, die 126.000 Fässer aus der Asse zu holen. Ein Besuch beim Versuchsleiter des Karlsruher Instituts für Technologie, der mit seinen Kollegen die Bergung möglich machen will.
Von: Dirk Gieselmann, Fotos: Michael Hudler
Die Reportage „Zärtliche Fräsen“ erschien zuerst in der Asse Einblicke Nr. 31, die im Juni 2016 erschienen ist und vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegeben wurde. Sie beschäftigt sich mit ersten Arbeiten zur Entwicklung von Bergungstechniken für die Rückholung der Abfälle.
Die meisten Bauingenieure träumen wohl davon, etwas zu erschaffen, das bleibt, möglichst für Jahrhunderte, vielleicht sogar für immer. Sie würden lieber einen Dom errichten als eine Fertiggarage, lieber eine Eisenbahnbrücke als einen provisorischen Fußgängerübergang. Auch Sascha Gentes ist Bauingenieur mit Leib und Seele, aber er konstruiert nichts, er dekonstruiert. Er baut ab, was andere aufgebaut haben. Denn natürlich ist es nicht so, wie es sich viele seiner Kollegen erträumen: Nichts bleibt für immer. Einer muss es dann wegschaffen. Und das ist Sascha Gentes.
„Nichts bleibt für immer. Einer muss es dann wegschaffen.“
Wenn Gentes seine Arbeit erfolgreich beendet hat, kann er seinen Kindern kein monumentales Bauwerk zeigen, das Ehrfurcht gebietet und über die eigene Existenz hinausweist. Ein Denkmal bleibt gleichwohl zurück, wenn auch ein dezentes: Es ist dann nichts mehr zu sehen als eine grüne Wiese, auf der die Kühe grasen.
Sascha Gentes ist Professor für den Rückbau konventioneller und kerntechnischer Bauwerke am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er räumt auf, was nicht mehr gebraucht wird, mitunter sogar gefährlich ist, giftig oder strahlend: stillgelegte Chemiefabriken, asbestbelastete Häuser, Ölraffinerien und Atommeiler außer Betrieb. Nun hat er sich im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz mit einer der kompliziertesten Aufgaben beschäftigt, die sich seiner Branche überhaupt stellen: der Bergung der radioaktiven Abfälle aus der Schachtanlage Asse II.
„Es ist dann nichts mehr zu sehen als eine grüne Wiese.“
Die Welt der sanften Bagger und sensiblen Fräsen
Es ist ein Generationenprojekt, für das es keine Vorbilder gibt. Sascha Gentes, 40 Jahre alt, hat es gerade deswegen angepackt. Man sieht ihm an, dass ihm harte Arbeit liegt, deren Ende über den Feierabend hinausgeht. Aufgewachsen ist er in sehr ländlicher Gegend, auf einem Bauernhof im Saarland, sein Berufswunsch war Maurer, und sein Händedruck lässt vermuten, dass er zumindest privat noch immer den einen oder anderen schweren Stein durch die Gegend trägt. Seine große Schwester überredete ihn Mitte der Neunzigerjahre zum Ingenieursstudium, seinen Doktortitel erwarb er dann schon in einer Disziplin, die ungleich mehr Umsicht und Feingefühl erfordert als das Errichten einer Mauer: Er erforschte neue Methoden für die Bergung von Erdbebenopfern aus eingestürzten Gebäuden. Es war sein Einstieg in die Welt der sanften Bagger und sensiblen Fräsen, er wurde Experte für den intelligenten Abriss. In den Vitrinen seines Büros sind die Modelle der von ihm entwickelten Maschinen so akkurat aufgereiht wie seltene Falter im Archiv eines Schmetterlingsforschers.
An seinem Institut für Technologie und Management im Baubetrieb herrscht eine Atmosphäre aufgeweckter Betriebsamkeit. Man arbeitet hier der Zukunft entgegen, man ist ihr von Berufs wegen näher als anderswo, vielleicht geht die große Wanduhr auch deshalb zwei Minuten vor. Durch die hellen Flure federn junge Menschen mit Zopf (männlich) und ohne (weiblich), denen man schon an ihrem Gesichtsausdruck amüsierter Konzentration ansieht, dass sie aus dem Stand einen Spitzenplatz bei der Mathe-Olympiade belegen könnten. Eine Dozentin nimmt einen sichtbar nervösen Prüfling bei der Hand und redet ihm gut zu, an Sascha Gentes’ Tür hängt eine von seinen Mitarbeitern ausgedruckte Urkunde mit der Aufschrift „Chef des Jahres“, zum Interview gibt es Brezeln und Kaffee. Sind Sie ein leidenschaftlicher Zerstörer, Herr Professor? „Im Gegenteil!“, so Gentes. „Wenn mein Sohn seine wunderbaren Lego-Konstruktionen wieder auseinanderreißt, bin ich ganz traurig. Ich selbst bewahre immer noch drei Autos auf, die ich vor 35 Jahren gebaut habe. Aber der Rückbau ist nun mal eine derart neue Forschungsrichtung, dass man hier viel kreativer sein kann, als würde man den ganzen Tag bloß Schrauben optimieren.“
„Sind Sie ein leidenschaftlicher Zerstörer, Herr Professor?“
Etwas rückzubauen, mit Sinn und Verstand, statt es, wie früher üblich, einfach abzureißen, ist in der Tat eine Herausforderung, die sich dem Bauingenieurwesen erst seit etwa 30 Jahren stellt, seit es in Deutschland Standards dafür gibt, was als gefährlicher Abfall zu gelten hat – und die sind äußerst streng. Würde man etwa eine Flasche Mineralwasser über einem Betonklotz ausgießen, gälte dieser bereits als kontaminiert: zu viele Salze. So kann eine Industrieanlage, die nicht mehr benötigt wird, natürlich nicht einfach gesprengt oder mit der Abrissbirne dem Erdboden gleichgemacht und ihr Schutt samt und sonders in einer Grube versenkt werden. Vielmehr müssen die einzelnen Bestandteile getrennt, gesondert gelagert, dekontaminiert und nach Möglichkeit recycelt werden. Der Rückbau eines Atommeilers würde Schätzungen zufolge etwa zehn bis fünfzehn Jahre dauern, dann wäre auch dort, wo einst riesige Kühltürme die Landschaft dominierten, nur noch besagte grüne Wiese zu sehen. Ein Denkmal der Stille. Wann über der Asse Kühe grasen können, ist hingegen derzeit nicht abschätzbar. Doch immerhin: Der Anfang scheint gemacht.
Als Sascha Gentes noch zur Bergung von Verschütteten forschte, waren die finanziellen Mittel knapp: Zu unwahrscheinlich ist ein Erdbeben in Deutschland. Der Rückbau von nuklearen Gebäuden ist spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 und der damit einhergehenden Energiewende in Deutschland eine ganz konkrete Aufgabe, der sich Politik und Industrie hierzulande stellen müssen. Und vielleicht noch drängender ist die Frage: Wie verfährt man mit den Fässern, die im Zeitalter der Atomeuphorie noch einigermaßen sorglos in der Asse versenkt wurden, fast so, als handele es sich um harmlosen Metallschrott? Das alte Bergwerk ist sanierungsbedürftig, Wasser dringt ein, rund 12.500 Liter pro Tag. Alles muss raus.
Maschinen und Methoden auf ihre Eignung für die Rückholung prüfen
Seit 2008 hat Professor Gentes den Lehrstuhl am Karlsruher Institut für Technologie inne, 2012 erhielt sein Institut den Auftrag vom BfS, bereits vorhandene Maschinen und Methoden auf ihre Eignung für die Bergungsarbeiten in der Asse II zu prüfen und Vorschläge für ihre Anpassung an die dortigen Gegebenheiten zu erarbeiten. Wie bei der Bergung von Erdbebenopfern sind auch in der Schachtanlage Geräte vonnöten, die zentimetergenau arbeiten können, um vorhandene und noch heile Fässer nicht zu beschädigen. Gentes und sein Team analysierten Bagger, die bei der Bombenentschärfung zum Einsatz kommen, Fräsen aus der Diamantenschürfung, riesige Bohrmaschinen aus dem Tunnelbau und dachten darüber nach, wie man diese so tunen könnte, dass sie in 750 Metern Tiefe Fässer freilegen. „Erst mal war jede Idee erlaubt“, sagt Gentes. „Es war eine sehr kreative, fast spielerische Arbeitsatmosphäre.“ Für einen Moment kann man sich vorstellen, dass die Vitrinen mit all den bunten Modellbaggern in einem Kinderzimmer stünden.
„Erst mal war jede Idee erlaubt“
Ob in dieser Phase am KIT wohl ein bisschen Pioniergeist aufgekommen ist, wie bei der Mondmission, als es ebenfalls galt, Maschinen zu bauen, die es noch gar nicht gab? Einen Schritt zu tun, der klein ist für einen Menschen, aber groß für die Menschheit? Gentes lacht: „Das ist mir zu viel Pathos. Das Größte, was ich jemals erreicht habe, ist, dass meine Mitarbeiter mich zum Chef des Jahres gewählt haben.“
Um anschließend die marktgängigen Werkzeuge zu testen, die infrage kamen, pumpten die KIT-Wissenschaftler auf dem institutseigenen Versuchsgelände Salzbeton in einen Container mit Metallfässern. Gentes zeigt nun auf seinem Computer ein paar Filme, auf den ersten Blick sieht es aus, als würden einem karieskranken Mammut die Stoßzähne poliert: Ein an einem Lenkarm rotierender Kopf fräst eine Salzbetonkruste weg, bis ein gelbes Fass zum Vorschein kommt. Das wird dann mit verschiedenen Vorrichtungen angehoben, mit einem Greifarm oder einem Saugnapf, der auf dem Deckel ansetzt. Das Fazit dieser Testreihe laut dem ersten Zwischenbericht: „Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass es momentan Standardwerkzeuge und Maschinen gibt, die geeignet scheinen, um die Anforderungen zu erfüllen.“
Das klang optimistisch, jedoch mit einer gravierenden Einschränkung: „Eine Übertragung auf die Situation der Schachtanlage ist ohne weitere Anpassung an die besonderen Gegebenheiten nicht möglich.“ Diese Anpassung würde bedeuten, dass die KIT-Wissenschaftler 30 Jahre lang warten, bis das Salz sich so verdichtet und mit den Fässern verbunden hat wie in der Asse. „Wir haben zwar Geduld“, sagt Professor Gentes, „aber so lange können und wollen wir nicht warten.“ Erschwerend hinzu kommt der Umstand, dass die Maschinen natürlich ferngesteuert werden müssten. Was aber, wenn durch abgefrästes Salz die Kameralinse verstaubt und die Sicht behindert wird? Nicht ohne Weiteres könnte ein Techniker hinabsteigen, um sie zu reinigen, in unmittelbarer Nähe zu den Fässern. Und das wohl größte Problem: Kann die Stabilität der Kammern während der Rückholung gewährleistet werden?
Deshalb beschritten Gentes und sein Team einen zweiten Weg: Sie untersuchten den Schildvortrieb, ein Verfahren aus dem Tunnelbau. Entwickelt wurde es vor rund 200 Jahren für den Bau des 400 Meter langen Tunnels unter der Themse. Die Ingenieure Marc Brunel und Thomas Cochrane ließen sich damals vom Schiffbohrwurm inspirieren, einer Muschel, die mit den Raspeln vorn ihren Weg gräbt und ihn hinter sich mit einer Röhre aus körpereigenen kalkhaltigen Sekreten sichert. Und so funktioniert die Methode heute im Prinzip immer noch: Die Tunnelbohrmaschine trägt vorn das Material ab und stabilisiert den entstandenen Hohlraum hinten durch eine Betonröhre. So sind etwa der City-Tunnel in Leipzig, der Wienerwaldtunnel in Österreich oder die vierte Elbtunnelröhre entstanden.
In der Asse II würde nun, so lautet Professor Gentes’ Empfehlung, eine etwa zehn Meter hohe und zehn Meter breite Maschine zum Einsatz kommen, die in Zusammenarbeit mit einem Hersteller für Tunnelvortriebsmaschinen erstellt wurde. Vorn würden die Fässer mit Fräsen und Hämmern freigelegt, mit Baggern gegriffen und innerhalb der Maschine in Spezialbehälter verladen, hinten würde der entstandene Hohlraum bis auf einen schmalen Zugangstunnel zubetoniert. Die Gebinde sollen dann zu einer Schleuse transportiert und über einen noch abzuteufenden Schacht 5 nach über Tage gefördert werden.
Fazit der Machbarkeitsstudie, die Professor Gentes dem BfS im Mai 2015 übergab: „Der Schildvortrieb kann dazu beitragen, die Rückholzeit zu verkürzen und die Sicherheit während der Rückholung vor allem bei instabilen Grubenverhältnissen zu gewährleisten. Darüber hinaus ist durch die Schildmaschine eine klare Abschirmung durch Einteilung in Sperr- und Kontrollbereich möglich mit minimalem Personaleinsatz.“
Noch ist die Maschine, wie es in der Studie heißt, erst „grob“ konzipiert, noch stehen weitere Studien aus, noch müsste das gesamte Verfahren auf Grundlage des Atomgesetzes genehmigt werden – und noch ist vor allem nicht geklärt: Wohin mit den Fässern, wenn sie erfolgreich nach über Tage gebracht worden sind?
Professor Gentes möchte weiterhin bei der Entwicklung geeigneter Maschinen für die Bergung der Abfälle mitarbeiten. Der Bauingenieur, der wegschafft, was andere hinterlassen haben. Oder wie der Dichter Andreas Gryphius einst schrieb: „Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein.“